Minimierung des Risikos für die verzögerte Diagnose von Verletzungen im Polytrauma-Szenario
Entwicklung des Risk for Delayed Diagnoses (RIDD) Score auf der Basis des TraumaRegisters DGU®
BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin
15.06.2025
D. Guembel, G. Matthes, A. Ekkernkamp, F. Laue et al.
doi: 10.1007/s00068-024-02571-2. Epub 2024 Jun 26. PMID: 38926171; PMCID: PMC11599345.

Was bisher bekannt ist
Verzögert diagnostizierte Verletzungen (VdV, „delayed diagnoses“, manchmal mit „übersehenen Verletzungen“ oder „missed injuries“ gleichgesetzt) stellen unverändert ein Problem im Polytrauma-Management dar. Sie können initiale Behandlungsprioritäten verschieben, und es erfordert einen erheblichen Mehraufwand und Ressourceneinsatz, um ihre mitunter vital bedrohlichen Konsequenzen erfolgreich abzuwenden.
Die flächendeckende Etablierung von international standardisierten Algorithmen wie ATLS®, der eFAST-Sonografie, insbesondere aber der primären, Kontrastmittel-verstärkten Ganzkörper-Mehrzeilen-Computertomografie („whole-body CT“, WBCT) und des sogenannten „tertiary survey“ haben zumindest in den Industrienationen das Risiko für VdV minimiert. Untersuchende werden hierbei zunehmend durch auf künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen beruhenden Routinen unterstützt. Ein zu großes Vertrauen in neue Technologien könnte jedoch dazu führen, dass klinisches Erfahrungswissen („Bauchgefühl“, Heuristik) vernachlässigt wird. Die Berliner Arbeitsgruppe hatte zudem in den letzten Jahren in führenden Fachjournalen darauf hingewiesen, dass unter anderem aufgrund der unfallbedingten Kreislaufzentralisierung sowohl die eFAST als auch die WBCT nicht verlässlich genug sind, um initial Verletzungen der großen Körperhöhlen, der parenchymatösen Organe oder der der großen Gefäße bildgebend auszuschließen.
Studiendesign und Resultate
In Kooperation mit dem TraumaRegister DGU® sollten Variablen identifiziert werden, welche mit einem erhöhten Risiko für VdV assoziiert sind. Eingeschlossen wurden Registerdaten von Patientinnen und Patienten aus dem Zeitraum 01/2011 bis 12/2020 mit einem Maximum Abbreviated Injury Scale (MAIS) ≥3, welche auf die Intensivstation gelangten und wenigstens 24 Stunden in der Klinik überlebten. Verglichen wurde die Rate von Diagnosen vor oder während der Schockraumphase (D0) mit derjenigen, welche im Rahmen des Intensivaufenthaltes (D1) gestellt wurden. Hieraus ergab sich eine Rate von VdV = D1 – D0.
Die geeignete Stichprobe umfasste 99754 Teilnehmende (mittleres Alter 49 ± 22 Jahre, mittlerer ISS 19 ±12, 71 % Männer) mit insgesamt 494990 Diagnosen. Von diesen wurden 82 % in überregionalen Traumazentren behandelt, 84 % unterliefen einen WBCT-Scan.
Eine jedwede VdV wurde bei 9175 / 99754 (9,2 %, 95 % KI 9,0 – 9,4 %) beobachtet. In der multivariaten logistischen Regressionsanalyse erwiesen sich acht Kriterien als unabhängige Risikofaktoren für eine VdV: 1. Verletzung von ≥2 Körperregionen, 2. Bewusstlosigkeit (GCS ≤8), 3. Behandlung in lokalem oder regionalem Traumazentrum, 4. Bluttransfusion vor ITS-Aufnahme, 5. Herzstillstand / kardiopulmonale Reanimation (CPR) präklinisch oder im Schockraum, 6. Motorradfahrer, 7. Pkw-Insasse, 8. ≥6 im Schockraum diagnostizierte Verletzungen.
Trafen ≥5 Kriterien zu, waren ≥24 % aller Registerteilnehmenden von einer VdV betroffen.
Bedeutung für die klinische Versorgung und Forschung in den BG Kliniken
Der vorgeschlagene RIDD-Score könnte die Sensibilität von Trauma-Teams für die Möglichkeit einer VdV erhöhen und das Mehraugen-Prinzip (das heißt Begutachtung durch Trauma-Leader plus unabhängige unfallchirurgische Instanz, Radiologin oder Radiologe vor Ort plus radiologischer Supervision) zusätzlich zu KI-unterstützten Arbeitsprozessen untermauern. Dies dient nicht nur der Patientensicherheit, sondern auch der Ökonomie. Der RIDD-Score muss in einer unabhängigen Stichprobe prospektiv validiert und der Variablensatz ggf. angepasst werden, um die erklärte Varianz (also die Fläche unter der ROC-Kurve) unter Wahrung des besten Verhältnisses von Sensitivität zu Spezifität zu optimieren. Ein tatsächlicher Patientennutzen des RIDD-Scores resultiert dann, wenn durch dessen Akzeptanz und breiter klinischer Anwendung die Rate von VdV in den nächsten Jahren zurückgehen sollte. Die BG Kliniken können entscheidend zur Umsetzung und Evaluation dieses neuen Instruments unter dem Dach und im Auftrag der Fachgesellschaften beitragen.
Über diesen Artikel
D. Guembel
G. Matthes
A. Ekkernkamp
BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin
BG Kliniken
BG Unfallbehandlungsstelle BerlinF. Laue
R. Lefering
Gümbel D, Matthes G, Ekkernkamp A, Laue F, Lefering R; TraumaRegister DGU. Influencing factors for delayed diagnosed injuries in multiple trauma patients - introducing the 'Risk for Delayed Diagnoses Score' (RIDD-Score). Eur J Trauma Emerg Surg. 2024 Oct;50(5):2199-2207. doi: 10.1007/s00068-024-02571-2. Epub 2024 Jun 26. PMID: 38926171; PMCID: PMC11599345.