Ein Tag auf der Station für Kinder­trauma­tologie

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Die Sektion für Kindertraumatologie der BG Unfallklinik Murnau ist auf die Akutversorgung, Pflege und Therapie von Kindern und Jugendlichen spezialisiert.

Ein großer Balkon mit Blick auf die bayerischen Alpen. Spielzeug liegt auf dem Bett. Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob Jonathan mit seinem Vater Urlaub in einem geräumigen, lichtdurchfluteten Doppelzimmer machen würde. „Ich habe Ferien“, sagt der Neunjährige mit einem breiten Lächeln. Die schulfreie Zeit verbringt Jonathan jedoch nicht in einem Alpenhotel, sondern in der BG Unfallklinik Murnau in der Sektion Kindertraumatologie. Statt auf den saftig grünen Wiesen zu spielen, lernt er in der täglichen Physiotherapie das Laufen neu. Vor einem Jahr wurde der Grundschüler in seinem Heimatort in einer fränkischen Kleinstadt auf dem Weg zur Schule von einem Bus angefahren und mehrere Meter unter ihm mitgeschleift. Sein rechter Unterschenkel wurde dabei fast komplett zertrümmert.

Rettung in letzter Sekunde

In einer Not-Operation im lokalen Krankenhaus konnte zwar in letzter Sekunde das Bein des Jungen gerettet werden – doch nachdem er von der Intensivstation kam, wollte der Knochen einfach nicht heilen. „Jonathan litt unter starken Schmerzen, obwohl er im Krankenhaus war und Schmerzmittel erhielt“, erklärt sein Vater. „Für meine Frau und mich war es unerträglich, das mitanzusehen.“ Es erfolgte eine Verlegung in die heimatnahe Universitätsklinik, in der die Schmerzsituation unter Kontrolle gebracht werden konnte.

Nachdem der Unterschenkel trotzdem nicht heilen wollte, empfiehlt die Unfallkasse den Eltern, ihren Sohn in die BG Unfallklinik nach Murnau zu bringen und sich von den dortigen Spezialisten für Kindertraumatologie eine zweite Meinung einzuholen. „Das war die beste Entscheidung. Jonathan ist kurz darauf stationär aufgenommen worden und seitdem geht es bergauf. Unser Sohn ist schmerzfrei und wir haben wieder Hoffnung“, so der Vater.

Maßgeschneiderte Behandlung

Das Ausmaß der Verletzung wird sichtbar, als Jonathan mit Hilfe von Krücken vom Tisch aufsteht, an dem er gerade gefrühstückt hat. Sein verletzter Unterschenkel steckt in einem spiralförmigen Drahtgestell, einem sogenannten Fixateur, der in den Knochen verschraubt wird. „Ziel ist es, dass sich das Bein erholt und Jonathan irgendwann wieder ohne Krücken laufen kann“, erklärt seine behandelnde Ärztin PD Dr. Dorien Schneidmüller bei der morgendlichen Visite.

Der Fixateur wird regelmäßig operativ neu angepasst – solange, bis der Knochen stabil ist. „Jonathan wird dafür jeweils stationär bei uns aufgenommen.“ In der Zwischenzeit darf der Neunjährige immer wieder nach Hause und auch zur Schule gehen. Schneidmüller freut sich über die Fortschritte, die Jonathan macht: „Anfänglich war sein Knochen butterweich, da er sein Bein ein halbes Jahr nicht bewegen konnte. Inzwischen ist der Knochen soweit stabil, dass er kürzere Wege bereits ohne Krücken zurücklegen kann und der Rollstuhl nicht mehr benötigt wird.“

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen

Die größte Herausforderung bei Jonathan lag darin, die richtige Therapie festzulegen, sagt Schneidmüller. Als Leitende Oberärztin und Expertin für Kindertraumatologie überwacht sie die Anpassungen des Fixateurs zusammen mit Dr. Thomas Kern aus der Abteilung für Septische und Rekonstruktive Chirurgie sowie die Anpassung eines speziellen Schuhs durch die hausinterne Orthopädietechnik.

„Knochen von Kindern sind anders als von Erwachsenen“, sagt Schneidmüller. Als Arzt brauche man deshalb viel Erfahrung in der Diagnostik und Therapie von Kinderbrüchen. Dabei sei es egal, ob es sich um einen unkomplizierten Bruch oder eine schwerwiegende Geschichte wie bei Jonathan handelt. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Das kann Dr. Christiane Kruppa, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie und Oberärztin am BG Universitätsklinikum Bergmannsheil Bochum, nur bestätigen. Auch Kruppa hat einen Schwerpunkt in der Kindertraumatologie und beide Fachärztinnen stehen im regen Austausch.

Andere Verletzungsmuster und Frakturen

An jeder BG Klinik gibt es ein Team von Unfallärzten, die in der Behandlung von Kindern erfahren sind. Das hat auch seinen Grund, sagt Kruppa, denn: „Im Gegensatz zu Erwachsenen ist das kindliche Skelett noch im Wachstum. Und aufgrund anatomischer und physiologischer Besonderheiten treten bei ihnen andere Verletzungsmuster und Frakturen auf, die der Arzt kennen muss.“ Die Diagnosestellung kann aufgrund des hohen Knorpelanteils des Skeletts von Kindern erschwert sein und erfordere deshalb eine umfassende Kenntnis der möglichen kindlichen Verletzungsformen sowie der Entwicklung des Knochens.

Nicht jeder Bruch ist auf dem Röntgenbild sichtbar. Häufig ist es die Erfahrung des Arztes, die darüber entscheidet, ob ein Bruch erkannt wird oder nicht. Auch die Therapie von Frakturen bei Kindern unterscheidet sich von der bei Erwachsenen. Durch das noch verbleibende Wachstum können Fehlstellungen abhängig vom Alter des Kindes und der Lokalisation der Verletzung korrigiert werden. „Nach einer Fraktur remodelliert der Knochen sich selbst oder stellt das Wachstum ein. Fehlstellungen wachsen sich aus, aber nicht immer und überall,“ sagt Schneidmüller.

Abteilung für Kindertraumatologie in Murnau

Seit 2012 leitet PD Dr. Dorien Schneidmüller die Sektion für Kindertraumatologie in Murnau, die aus einem Kompetenzteam von zwei Oberärzten und zwei Assistenzärzten besteht. 2018 gab es in Deutschland 1,3 Millionen Schulwegunfälle. Allein in Murnau wurden davon 3.777 behandelt – 3.189 ambulant, 588 stationär. Hinzu kommen zahlreiche Spiel- und Sportunfälle. Im Schnitt werden in der BG Unfallklinik Murnau ein bis zwei schwerverletzte Kinder im Monat behandelt. „Heute Vormittag ist der Rettungshubschrauber schon zweimal gelandet, da stehen auch wir auf Abruf.“

Kinderspezifische Betreuung

Neben der spezifischen medizinischen Versorgung durch ein interdisziplinäres Team von erfahrenen Ärzten ist auf der Station für Kindertraumatologie in Murnau auch sonst alles auf die Bedürfnisse von Kindern ausgelegt: Es gibt eigens Kinderkrankenschwestern und Lehrerinnen, die sich um die kleinen Patienten kümmern und dafür sorgen, dass sie sich während ihrer Zeit im Krankenhaus aufgehoben fühlen – und trotzdem nicht den Anschluss an die Schule verpassen.

Obwohl Jonathan bereits innerhalb eines Jahres mehrere Monate im Krankenhaus verbringen musste, hat er die Versetzung in die vierte Klasse geschafft – dank Einzelunterrichts durch eine Lehrerin, die täglich zu Jonathan aufs Zimmer kam. „Die Lehrerin in der Klinik hat sich sogar mit der Lehrerin in Jonathans Schule abgestimmt, so dass er im Krankenhaus dieselben Tests schreiben konnte wie seine Mitschüler“, erzählt Jonathans Vater. „So kann ich mit meinen Freunden in die nächste Klasse gehen“, freut sich Jonathan.

Offene Kommunikation

Ein weiteres wichtiges psychologisches Moment für die Kinder auf der Station ist, dass die Eltern bei ihnen im Zimmer schlafen können. Während der Krankenhaus-Aufenthalte seines Sohnes bezieht Jonathans Vater abwechselnd mit seiner Frau das Bett an dessen Seite, damit Jonathan sich nicht alleine fühlt. Wie geborgen und wohl sich die Kinder fühlen, hat einen großen Einfluss auf den Heilungsprozess. „Dafür ist es wichtig, die Eltern mit ins Boot zu holen“, sagt Schneidmüller. „Sind die Eltern beruhigt, überträgt sich das auch auf das Kind und umgekehrt. Deshalb ist eine klare und transparente Kommunikation die Basis für jede Behandlung.“ Jonathans Vater pflichtet ihr bei: „Ich habe mich zum ersten Mal gut abgeholt und eingebunden gefühlt. Ich weiß immer, was gerade mit meinem Sohn passiert. Das beruhigt mich sehr.“

Kindertraumatologie in Murnau

Die Kindertraumatologie befasst sich mit allen akuten Verletzungen des muskuloskelettalen Apparates sowie deren Folgezuständen bei Kindern und Jugendlichen. Die Sektion für Kindertraumatologie an der BG Unfallklinik in Murnau besteht seit 2012. Die Kinder werden hier interdisziplinär je nach Bedarf durch die Abteilungen Unfallchirurgie, Anästhesie, Radiologie, Viszeralchirurgie, Pädiatrie, Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie sowie Hand- und Plastische Chirurgie versorgt.

Kindertraumatologie auf dem höchsten medizinischen Stand

Zudem besteht eine Kooperation mit der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums Garmisch-Partenkirchen, was eine stationäre Versorgung auf der dortigen Intensivstation mit besonderer kinderintensivmedizinischer Kompetenz ermöglicht.

Neben der klinischen Versorgung ist die Kindertraumatologie der BG Unfallklinik Murnau wissenschaftlich aktiv mit Vorträgen auf wissenschaftlichen Kongressen und Publikationen in medizinischen Zeitschriften.

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